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Achtsamen, frieden, nichtsen

Spiritueller Impuls von Norbert Kasper

Beim Jahrestreffen 2019 der Lehrerinnen und Lehrer der via integralis in Wislikofen im Januar dieses Jahres haben wir in Kleingruppen über den Vortrag von Margrit Wenk-Schlegel gesprochen. Dabei kam die Idee auf, das Thema Frieden einmal grundsätzlich zu beleuchten und zu überlegen, wie wir es in unsere Praxis integrieren können. Dabei sind folgenden Gedanken entstanden.

Drei Verben, die es in der deutschen Sprache nicht gibt, aber wenn man ein wenig mit ihnen spielt, dann können sie wichtig für uns werden. Manchmal tut es ja gut, Selbstverständlichkeiten einfach zu hinterfragen. Und ähnlich können wir bisher gewohnte Begriffe wie Achtsamkeit, Friede oder Nichts kreativ umschreiben bzw. fortschreiben, so dass die Haltung dahinter in den Blick kommt; mehr noch: es kann uns helfen, immer intensiver in jene innere Haltung hineinzuwachsen, um die es dabei geht, so dass wir das werden, was wir anstreben! Dafür sind diese Worte sehr hilfreich.

Achtsamkeit ist heute in aller Munde. Und viel Oberflächliches ist auch mit dabei. Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, ein Begriff, in dem sich heute viele spirituelle Praktiken zusammenfassen lassen, dann fokussieren wir uns auf ein Zentrum. Wir lernen, unseren eigenen Mittelpunkt zu finden und uns auf das Wesentliche in unserem Leben zu konzentrieren. Achtsamkeit wird so zu der religiösen oder spirituellen Praxis schlechthin. Und wie oft wird in der Literatur dazu aufgefordert, Achtsamkeit zu entwickeln und zu fördern, in ihr finden wir derzeit das Allheilmittel gegen die Gefahren für Leib und Seele, die uns modernen Menschen drohen. Diese Sichtweise ist nicht falsch. Früher haben die Religionen ihre Anhängerinnen und Anhänger aufgefordert, ein moralisch einwandfreies Leben zu führen. Was als richtig galt, wurde von der jeweiligen „Lehre“ bzw. von deren Experten, den Schriftgelehrten und Theologen, festgelegt. wer diesen Forderungen nicht entsprochen hatte, lief Gefahr, gesellschaftlich geächtet oder im Schlimmsten Fall getötet zu werden. Davon sind wir heute glücklicherweise weit entfernt. Doch der Begriff Achtsamkeit oder die Aufforderung achtsam zu sein, gewinnt eine ähnlich starke Bedeutung wie früher die Moral. Und da sehe ich eine Gefahr. Durch die Tendenz zum Moralisieren wurde die Religion immer mehr ins Äußere, ins Sichtbare verlagert. Ähnliches geschieht jetzt schon mit der Achtsamkeit.

Wenn Du den Anschein erweckst, achtsam zu sein, dann reicht das aus, rede ab und zu darüber, dann zeigst Du, dass Du auf der Höhe der Zeit bist. Aber das ist zu wenig, wie wir wissen. So wenig wir Gut-Sein auf Moral beschränken können, so wenig können wir Achtsamkeit auf äußere Verhaltensweisen reduzieren. Es kommt eben auf die innere Haltung darauf an. Da reicht es nicht aus, äußerlich achtsam zu sein oder Achtsamkeit zu üben, sondern wir sollten sie uns ganz zu eigen machen, indem wir sie ganz und gar praktizieren, wenn wir sie tun. Achtsamkeit als innere Haltung durchdringt unser ganzes Dasein. Genau das möchte dieses Wort zum Ausdruck bringen: Wir »achtsamen«!

Nun zum Thema Frieden – ganz praktisch: Jeder redet von der Liebe und viel wird darüber gesprochen und gesungen. Aber nur wenn wir lieben, machen wir selber die Erfahrung, welche sich hinter dem Wort verbirgt. Da machen wir die ganzheitliche Erfahrung. Denn wenn wir lieben, dann mit aller Energie, die uns zur Verfügung steht, und wir lassen uns ganz davon in Beschlag nehmen: Wir lieben. Ähnlich ist es mit dem Hass und mit dem Verb hassen.

Aber für Friede gibt es kein entsprechendes Verb. Wir setzen uns für den Frieden ein. Wir schaffen Frieden, so gut es geht und wir versuchen in unserem Umfeld, so friedlich wie möglich zu agieren. Dabei ist Frieden aber, wie mir scheint, immer ein Objekt, auf das ich mich hinbewege. Beim Meditieren lerne ich aber, alle Objekte loszulassen, auch den Frieden. Wie kann dann Frieden geschehen? Für den Kampf gibt es ein solches Verb, denn wir kämpfen. Selbst für den Krieg gibt es noch das alte Wort kriegen, das benützt wurde, wenn man sich heftig streitet. Ein Verb für den Frieden jedoch gibt es nicht. Wenn ich mir aber Frieden ganz zu Eigen mache, wenn ich selbst Friede werde, dann friede ich – oder nicht? Lasst uns viel mehr »frieden«!

Und noch ein Drittes: Mit was beschäftigen wir uns beim Sitzen? Natürlich: mit dem Nichts! Und das, ohne etwas dabei zu wollen. Dieses Nichts, um das es in der Kontemplation geht, lässt sich schlecht beschreiben. Im elften Vers im Tao te King heißt es: »Der Reifen eines Rades wird von den Speichen gehalten. Doch das Leere darin ist das Sinnvolle beim Gebrauch. Aus nassem Ton werden Gefäße geformt. Jedoch die Leere darin ermöglicht erst das Füllen der Krüge. Aus Mauern, durchbrochen von Türen und Fenstern, baut man ein Haus. Aber der Leerraum, das Nichts macht es erst bewohnbar. So ist das Sichtbare zwar von Nutzen, doch das Wesentliche bleibt unsichtbar.«

Das Wesentliche ist jenes Nichts. Es ist in allen Dingen, auch in jeder und in jedem von uns. Wenn ich mir nun diese Sichtweise ganz zu eigen mache, wenn ich mich dieser Haltung ganz hingebe, wenn ich ganz darin aufgehe, in der Erfahrung bin und bleibe, dann praktiziere ich das Wesentliche, dann gehe ich in jenem unsagbaren Nichts auf. Und Dieses ist dann kein Objekt mehr, über das ich nachdenke, sondern ich bin es – , mit Haut und Haaren, ganz eben. Das nenne ich »nichtsen«!

Norbert Kasper, Gaggenau/D, Juni 2019
Theologe und Pastoralreferent, Kontemplationslehrer