Zeitzeugen

Natsnet – Eine Frau aus Eritrea

Ein Portrait von Regina Grünholz, via integralis

Seit September 2016 wohnt sie bei mir. Natsnet ist 20. Ihr Name bedeutet auf Tigrinya, der Sprache Eritreas: Freiheit. Sie ist drei Jahre nach Beendigung des Bürgerkriegs geboren. 1993 erreichte das Land die Unabhängigkeit von Äthiopien. Ihr Vater Mehari, ca. 60 Jahre alt – das genaue Geburtsdatum ist den Eritreern dieser Generation nicht so wichtig – soll eine Schule geleitet haben. Die Mutter Senait ist etwas jünger und hat 7 Kinder zur Welt gebracht. Sie ist Analphabetin. Auf ihrer Stirn ist ein blaues Kreuz eintätowiert, …

das sie als Christin kennzeichnet. Sie besucht hier einmal pro Woche einen Deutschkurs. Sie kann zurzeit gerademal ihren Namen schreiben. Tigrinya hat ein ganz anderes Schriftbild, es wirkt ein bisschen wie ein orientalisches Muster. Einige Worte stammen noch aus der italienischen und englischen Kolonialzeit. Der Vater geht täglich in den Deutschintegrationskurs und zur Kirche. Aber er spricht und versteht deutsch nicht gut. Natsnet findet, er gehe die Sache zu verkrampft an. Ausser zur Kirche – die Orthodoxen dürfen hier oft katholische Kirchen mitbenutzen – fährt er nach Bern, um die zweijährige Abrehet, Yaldiyans, eine der Schwestern Natsnets, uneheliche Tochter zu hüten – sie lebte über ein paar Jahre mit einem Äthiopier  zusammen, sie wollten heiraten – da verabschiedete er sich zugunsten einer Landsmännin und kehrte nach Äthiopien zurück. Jetzt ist sie allein und wohnt mit Abrehet in Bern. Eine Südamerikanische Tagesmutter hilft oft aus, wenn Yaldiyan zur Arbeit oder zur Schule muss. Sie hat nach einer Anlehre im Altersheim die dreijährige Lehre zur Köchin begonnen und steht im dritten Ausbildungsjahr, kurz vor Abschluss. Sie freut sich, dass sie bald nicht mehr vom Sozialamt abhängig sein wird.

Das ist auch Natsnets Traum! Vorbilder wie Senait G. Mehari oder Feven Abreha Tekle (s. Anhang) wirken motivierend und zeigen auf: Ja, auch ich kann es schaffen! Der Ehrgeiz ist gross, fast unermüdlich lernt Natsnet und eignet sich Neues an. Auch Sara, die Schwester, die in Schaffhausen mit einem Eritreer glücklich verheiratet ist und zwei Kinder hat, ist im dritten Lehrjahr als Kindergärtnerin. Deswegen sind die Eltern hierhergekommen. Sie sitzen in ihrer 4-Zimmerwohnung, der TV läuft, auf diese Art sind sie erstaunlich informiert über alles, was auf der Welt so geht. Den Schweizer Sender bekommen sie aus irgendeinem Grund nicht. Die kärglich eingerichtete Wohnung ist in der Stube mit einem grossen Marienposter geschmückt, hellblauer Mantel, eine weisse Madonna. Auch deswegen möchte ich gerne einen zweiten Anlauf nehmen und wenigstens Natsnet, lieber auch ihren Eltern, die schwarze Maria von Einsiedeln zeigen. Beim ersten Mal sass ich schon im Zug, an der nächsten Station hätte Natsnet zusteigen sollen, als mich ein sms erreichte, sie sei krank… ich beschloss trotzdem alleine weiterzufahren nach Einsiedeln. Das ist auch Afrika. Man kann schon planen, aber sehr oft kommt es anders, und geht es auch anders.

Mehari meinte anfangs kopfschüttelnd: Ich lebe alleine? Habe nur ein Kind? Ich habe eine gute Bildung, das heisst ich bin glücklich, es kann mir doch gar nichts fehlen!

Natsnet hat in der Zwischenzeit sehr wohl gemerkt, was unsere westlichen Probleme sind. Sie hatte früher Agronomie studiert, hat sich hier auf eigene Faust an der Kantonsschule Solothurn gemeldet und wurde auch probehalber für 5 Monate aufgenommen. Es stellte sich heraus, dass sie sprachlich nicht mitkam und ausserdem einen Schulweg täglich von über drei Stunden zurücklegen musste. Sie durfte im Herbst 2016 dann an der Fachmittelschule FMS, einer eigenen Abteilung der Kantonsschule, neu starten.

Nun wohnt sie die Woche über bei uns. Mirjam, unsere Tochter, hat ihr Zimmer freigegeben. Diese wohnt und studiert jetzt in Bern. Ich selber komme etwas unregelmässiger zum Meditieren, helfe dafür bei der Unterscheidung von Masse und Gewicht oder einer Powerpoint Präsentation über den tropischen Regenwald. Französisch ist ganz neu für Natsnet. Da hat sie extra Stunden bekommen. Ist aber so weit, dass sie jetzt im gemeinsamen Französischunterricht mit dabei sein kann.

Wir waren zusammen im Film „Die göttliche Ordnung“. Was wir heute in der Schweiz einigermassen an Gleichberechtigung von Frau und Mann erreicht haben – dem ging ein langer Kampf voraus. Das hat sie gut verstanden.

Natsnet weihte mich ein, warum sie ihren Freund schätzt: er hat nichts dagegen, dass sie eine Ausbildung macht. Eritreische Frauen sind heute generell noch daheim am Herd und kochen stundenlang enjera mit Gemüsepaste. Enjera ist eine Art Pfannekuchen aus saurem Teig, von dem ein Rest immer stehen gelassen und dann weiterverwendet wird. Enjeras sind aus Hirsemehl und Wasser und haben tausend aufgeplatzte Bläschen an der Oberfläche. Man reisst einhändig ein Stück ab und verpackt einhändig die Fleischsauce oder das Gemüse darin zu einem mundgerechten Happen. Finger abschlecken ist am Ende der Mahlzeit erlaubt.

Das Kaffeetrinken ist eine eigene Zeremonie: es werden bei Tisch auf einem kleinen Öfchen Kaffeebohnen geröstet, diese dann in ein Kännchen gegeben, in welchem Wasser aufgekocht wird. Das alles macht die Mutter, auf einem niedrigen Schemelchen sitzend. Der erste stärkste Sud ist für die Männer und den Besuch, der zweite schwächere für die Frauen und der dritte evtl. für die Kinder. Es besteht eine sehr strenge Haltung gegenüber Genussmitteln und Angst vor ihrem Suchtpotential. So hat Natsnet erst vor Weihnachten bei mir ihren ersten kleinen Schluck Alkohol getrunken.

Etwas Allgemeines zu Afrika ist noch zu sagen: Die hellhäutigeren Nordvölker fühlen sich den dunklen Südvölkern überlegen, die Völker Ostafrikas denjenigen aus dem Westen. Nach dieser Rechnung müssten sich die Eritreer als die besten vorkommen. Ägypter zählen wegen ihrer hellen Haut nicht mehr zu Afrika. Und dieser Dünkel ist auch bei der gläubigen Familie Mehari zu spüren. Eine abschätzige Haltung den im Flachland an der Küste lebenden „faulen Muslimen“ gegenüber. Sie, die Christen, lebten mehrheitlich im inneren gebirgigen Teil des Landes und seien arbeitsame Bauern, erzählt sie. Ja, die erste romantische Phase: Was, du hast einen Flüchtling bei dir aufgenommen? So gut! ist vorbei.

Das Vertrauen wuchs in Millimeterschritten im Laufe des letzten 9 Monate. Ich erfahre bei fast jeder Begegnung etwas Neues aus ihrem Leben, aus der Geschichte der Familie oder des Landes Eritrea. Es sind kleine Geschenke, die ich nicht erzwingen kann. Auch ich teile mich öfter mit – immer im Einhalten gewisser Grenzen. Ich habe zwar den Platz einer Mama Regina, beim Vater habe ich die Stellung einer Grossmutter, so oder so zur Familie gehörig – aber ich bin 40 Jahre älter als Natsnet. Und sie ist, bei aller Reife, noch jung, auch noch ein Kind. Der Umgang miteinander wurde natürlicher. Einmal waren Natsnet und ich im Winter auf dem Weissenstein, unserem Hausberg. Ich fragte sie nicht, aber auf der Rückfahrt in der Sechsergondel sagte sie, sie hätte schon ein bisschen Angst gehabt. Oben spazierten wir zum Hinterweissenstein, dort gab’s Kaffee und ein Stück Zopf.

Sie ist sehr anspruchslos in ihrem Essen. Spart auch, denn die Leistungen des Sozialamts sind knapp bemessen. So koche ich meistens am Vortag so viel, dass sie sich etwas mitnehmen und über Mittag im Mikrowellengerät an der Schule wärmen kann.

Anfangs hatte ich manchmal das Gefühl, sie sei unsichtbar. Heute kauft sie selber ein: es gibt da wohl noch ein wenig Verbesserungspotential. Grosse Laibe weissen Brotes vom Aldi, einen 5-Kilosack Kartoffeln. Meine Küchenorganisationsfähigkeiten sind gefragt, da ich nicht gerne verdorbene Lebensmittel wegwerfe und andererseits auch gerne ausgewogen koche.

Ich lege ihr morgens eine Banane, Nüsse oder einen Apfel hin zum z‘ Nüni. Sie geht oft ohne Frühstück los, vielleicht eine Milch mit Kaffee.

Ja, und mein Schlaf, der sehr leicht und störungsanfällig ist, leidet etwas. Sie ist zwar wirklich fast nicht hörbar. Aber ein lautes Geräusch bei der Morgentoilette oder die Haustür, die ins Schloss fällt, und meine eigene Nachtruhe kommt zu kurz. Darum ist es auch ganz gut, dass sie offiziell nur vier Nächte bei uns ist. Das Sozialamt will das so. Bezahlt wird natürlich nichts, denn sie könnte ja durchaus auch daheim wohnen…

Ausser Natsnet trägt keine der genannten Personen den hier verwendeten Namen.

Aktuelle Informationen auf der Website des Staatssekretariat für Migration (SEM) Bern):

  • Im Jahr 2016 sind rund 181 500 Migrantinnen und Migranten in Süditalien angelandet. Die allermeisten, nämlich 90 %, sind durch Libyen gereist. Etwa 20 700 eritreische Staatsangehörige haben Süditalien über das Mittelmeer erreicht, das sind rund zweimal weniger als 2015 (39 150). In diesem Jahr haben fast ein Drittel der Eritreerinnen und Eritreer in Italien ein Asylgesuch gestellt, während es 2015 weniger als 5 % waren.
  • Seit der Unabhängigkeit Eritreas 1993 wird das Land von Isaias Afewerki beziehungsweise von seiner Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ) allein regiert. Es hat seither keine Wahlen gegeben, und die 1997 verabschiedete Verfassung trat nie in Kraft. Personen, welche die Regierung kritisieren, werden meist ohne Verfahren inhaftiert. Auch die Religionsfreiheit ist stark eingeschränkt.
  • Seit dem eritreisch-äthiopischen Grenzkrieg 1998–2000 müssen alle Eritreer einen zeitlich unbeschränkten «Nationaldienst» leisten ohne Aussicht auf Entlassung – entweder im Militär oder im zivilen Bereich. Der Sold ist sehr gering. Ort und Inhalt des Diensts können nicht gewählt werden. Viele junge Eritreer treibt diese Perspektivenlosigkeit in die Emigration.
  • Die in die Schweiz reisenden eritreischen Migrantinnen und Migranten sind vorwiegend Personen im Alter zwischen 15 und 30 Jahren. Sie reisen meist auf dem Landweg via Sudan nach Libyen, von dort weiter mit Booten nach Italien. Ihre wichtigsten Zielländer in Europa sind Schweden, Deutschland, Norwegen, die Niederlande und die Schweiz.

Literatur zum Weiterlesen:

  • Feven Abreha Tekle. Ich wollte nicht töten! Die dramatische Flucht einer Soldatin durch Afrika. Verlag Weltbild 2005
  • Senait G.Mehari. Wüstenlied. Droemer Verlag 2006
  • Senait G. Mehari. Feuerherz. Knaur Taschenbuchverlag
  • Hans-Ulrich Stauffer. Eritrea – „der zweite Blick“. 2017