Ein anstrengender Arbeitstag liegt hinter mir. Ich gehe die Treppe zum Meditationsraum hinunter… In meinen Gedanken tönen noch die Echos von Begegnungen und Gesprächen dieses Tages, und einen Moment zögerte ich, ob ich den Abend nicht doch am PC mit den hängigen Mails verbringen sollte, da stelle ich lächelnd fest, wie mein Körper schon entschieden hat: Er weiss, wie gut mir der wöchentliche Meditationsabend tut…
Ein paar kurze Begrüssungen: Wie geht’s? Kommt Hans heute nicht? Die Verneigung am Eingang und vor dem Kissen – die Eingangsrituale sind mir vertraut wie auch der Raum, der mich so unauffällig wie behutsam jedes Mal aufs Neue zur inneren Sammlung einlädt.
Jeden Mittwochabend treffen wir uns hier: acht, zehn, manchmal mehr Männer und Frauen aus Rheinfelden und Umgebung. Sie kommen wie ich aus ihrem Alltag, um in das gemeinsame Schweigen einzutauchen.
Ich höre die einführenden Worte von Meister Eckhardt:
Geh in deinen eigenen Grund. Inwendig im innersten der Seele, da ist dein Leben, da allein lebst du! und lasse mich vom Klang des Gongs in die Stille führen…
Das Kissen, die Wand vor mir, die Gemeinschaft atmender Menschen um mich herum… was brauche ich mehr, um den Widerhall des Tages in mir ausklingen zu lassen?
Beim Meditieren lasse ich meine Gedanken Gedanken sein. Sie kommen und gehen, sofern ich nicht an ihnen klebe. Das Sitzen, das Atmen im natürlichen Rhythmus sind meine Antwort auf alle Fragen. Ich spüre: Ich bin der, der ich JETZT bin, in diesem Augenblick.
Mein Kissen und die Übung sind wie ein Spiegel, mit dessen Hilfe ich mir in die Augen schaue: Er offenbart mir ohne Schnörkel meine ganze Wirklichkeit und Wahrheit: manchmal mühsam, manchmal lustvoll, manchmal leicht, vor allem wenn sich ein „Problem“ allmählich in Luft d.h. im Atem auflöst…
Dabei birgt der Augenblick so viele Überraschungen – wie die Fliege, die mir gegenüber die Wand empor krabbelt, um sich im nächsten Moment auf meine Nasenspitze zu setzen. Das Kitzeln auf meiner Nasenspitze zuzulassen ist eine veritable Herausforderung!
Die Kontemplation (von lat. kontemplare, schauen, betrachten) lehrt mich zu schauen, auszuhalten, zu geniessen, was IST: Jetzt. In diesem Augenblick. An diesem Ort. Braucht es mehr, um wirklich zu SEIN? Immerhin: Mit den Jahren der Übung lassen sich Früchte erkennen: mehr Humor, mehr Mitgefühl mit anderen, mehr Geduld mit mir selber und meinen vermeintlichen Stärken und Schwächen.
Mein Atem heisst Jetzt titelt ein Gedichtband von Rose Ausländer. Diese vier Worte sind für mich wie ein Geländer, an dem ich mich entlang bewege, Atemzug für Atemzug, um mich dem stillen Grund, von dem Meister Eckhart spricht, anzuvertrauen. Wie kann ich teilhaben an jener Wirklichkeit hinter all den Oberflächen von Wirklichkeit? An jenem Grund, und auf dem ich mich wie selbstverständlich bewege, und den wir gewohnt sind GOTT zu nennen, oder mit Jesus Abba-Väterchen, oder anders…
GOTT ist immer gegenwärtig, schrieb Madeleine Delbrel, die französische Mystikerin aus der Generation meiner Eltern, einmal in ihr Tagebuch, wie kommt es dann, dass ich immer wo anders bin? Der Satz hat sich mir tief eingeprägt. Er spornt mich an, wenn ich merke, dass ich mal wieder „ausser mir bin“. Und dann kehre ich wieder dankbar zurück zum Atem.
In mir formen sich Worte: GOTT, ich will hier sein bei Dir; lass mich ankommen in deiner bleibenden Gegenwart!
Kontemplation ist für mich längst ein Übungsweg, der mich näher zu mir selber führt – und immer tiefer hinein in das Geheimnis der „Letzten WIRK-lichkeit“, die mir Leben schenkt.
Der Kontemplationsabend geht zu Ende. Leichtfüssig (und einem Vers von Angelus Silesius auf den Lippen) kehre ich zurück in die Wohnung.
Mein Atem
In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut
Sterne lächeln
in meinen Augen
Kommen Menschen
mit vielfarbnen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich
Die Vergangenheit hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt
Mein Atem heißt
JetztRose Ausländer