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Hoffe ich auf ein Wunder?¹

Beatrix Jessberger
* 22.03.1952, † 06.05.2019

Spiritueller Impuls von Beatrix Jessberger

Beatrix Jessberger hielt den folgenden Beitrag als Spirituellen Impuls auf der Gemeinschaftsversammlung des Katharina-Werks, dessen Mitglied sie war, am 26. Januar 2019 in Rastatt. Sie reflektiert darin ihre Arbeit als reformierte Pfarrerin in der Schweiz und ihr Engagement in der Kirche in den letzten 30 Jahren. 2006 wurde sie von Pia Gyger zur Kontemplationslehrerin der via integralis ernannt. Angesichts der aktuellen Lage der christlichen Kirchen in Europa spricht die Autorin mit ihrer Fragen vielen von uns aus dem Herzen. Sie verstarb am 6. Mai 2019. Wir brachten im Newsletter 7/2019 einen Nachruf auf ihr Engagement und ihr Wirken.

Dreißig Jahre habe ich als reformierte Pfarrerin in verschiedenen Kirchgemeinden in Berlin und im Appenzeller Land gearbeitet. Seit dem 1. November 2018 bin ich pensioniert. In diesen vergangenen dreißig Jahren ist unglaublich viel passiert. Ich habe die Kirche in ihren schlimmsten Ausprägungen erlebt, aber ich habe sie auch von ihrer besten Seite her kennengelernt. Als ich in den 80-iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts studiert habe, war ein Aufbruch in den Kirchen spürbar. Feministische Theologie, Befreiungstheologien, politische Theologie, Kirchenbesetzungen, der jüdisch-christliche Dialog, die Begeisterung für indische Gurus spielten eine große Rolle. Für mich war es ein unglaubliches Ereignis, als Frau ordiniert zu werden und eigenständig die Tradition vermitteln und deuten zu können. Allerdings erlebte ich damals eine spirituelle Krise, weil meine mystische Seele in der reformierten Kirche nicht genügend Nahrung erhielt. Die Krise führte mich zur Zen-Meditation und ins Katharina-Werk. Pia Gyger spielte für mich eine wichtige Rolle als Zenmeisterin, aber auch als theologische Lehrerin. Neben Abraham Heschel war sie diejenige, die mein Herz für die Glaubensgeheimnisse öffnete. Das Katharina-Werk unterstützte mich darin, meine Persönlichkeit zu schulen und meine Schattenthemen zu bearbeiten. In der Ausbildungsgruppe, in der Basisgruppe und innerhalb von Exerzitien habe ich mich mit den Themen Macht, Sexualität, Besitz und Wesensgehorsam auseinandergesetzt.

In den 80-iger und 90-iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war ich nicht die einzige in unserer Gemeinschaft, die glaubte, dass wir Kirche verändern können. Wir waren viele. Die kathartische Spiritualität floss in meine Tätigkeit als Gemeindepfarrerin in Rehetobel ein. Dort lernte ich Kirche als den Ort kennen, der Menschen verbindet. Ich verstand meine Arbeit in erster Linie als Beziehungsarbeit. Es gab besondere Momente und Zeiten in meiner Pfarrtätigkeit. Ich denke an den ökumenischen Appenzeller Kirchentag, den ich 2013 in Rehetobel ausrichten konnte. Unvergesslich sind auch die Gottesdienste mit Tibeterinnen und Tibetern, interreligiöse Veranstaltungen, Konfirmationsreisen nach Berlin, Familiengottesdienste mit Tieren oder Abdankungen, bei denen die spirituelle Kraft einer Gemeinschaft erfahrbar waren und die vielen Konzerte in der Kirche. Ökumene war selbstverständlich, auch im Bereich des Religionsunterrichts. Über die Jahre wuchs ein stabiles Vertrauensverhältnis im Dorf. Die positive Erfahrung, die die Menschen im Dorf mit „ihrer Pfarrerin“ machten, hatte allerdings keinen Einfluss auf ihre Haltung der Institution Kirche gegenüber. Dieses Phänomen teilten wir Pfarrerinnen und Pfarrer im ganzen Appenzeller Land. Egal wie positiv unsere interreligiösen Veranstaltungen, unser lebendiges Kulturangebot, unsere Zusammenarbeit, unsere Seelsorge, unsere sorgfältigen Predigten, unsere engagierte Konfirmationsarbeit aufgenommen wurden, die Kirche als Institution fristete unverändert ein Nischendasein in den Dörfern. Ich würde sogar noch weitergehen und sagen, dass ich als Vertreterin der Institution auch demütigende Momente erlebt habe, bis hin zu Mobbing. Im Pfarrkonvent war das Thema der Marginalisierung tabu, weil es ja die Daseinsberechtigung von uns Pfarrerinnen und Pfarrern betraf. Eine Kollegin schrieb sogar einen Artikel darüber, wie schön die Leere in den Gottesdiensten sei. Obwohl in Rehetobel relativ wenige Menschen aus der Kirche ausgetreten sind, verglichen mit anderen Appenzeller Kirchgemeinden, fragte ich mich, bin ich vor allem Sterbebegleiterin der Kirche?

Zur Situation der Kirchen heute

Niemandem von euch muss ich erzählen, welch unverzeihliche Schuld die Kirchen auf sich geladen haben, der sexuelle Missbrauch von Kindern, die Diskriminierung von Frauen, offener oder versteckter Antisemitismus, Langeweile und Verknöcherung. Wenn Glaube durch Bekenntnisformeln ersetzt wird, ritueller Vollzug an die Stelle von Anbetung tritt und Gewohnheit an die Stelle von Liebe, dann hat die Botschaft allen Sinn verloren (Abraham Heschel). Aber die Schwäche der Kirchen hat auch mit uns zu tun. Je liberaler wir wurden, umso rückständiger erschien und erscheint uns die Kirche. Das hat etwas mit dem Zeitgeist zu tun, in dem wir leben, mit dem Geist der Aufklärung.

Dan Diner, ein Historiker und politischer Schriftsteller, macht deutlich, dass es in Europa zwei Formern der Aufklärung gab, uns aber nur die eine bewusst ist:

1. Auf der einen Seite die französische Aufklärung, in deren Einflussbereich wir in der Schweiz und in Deutschland stehen. Sie war von Anfang an antiklerikal und antimonarchistisch.

2. Die schottische, in deren Einflussbereich England und die USA stehen. Sie hat Kirche, Religion und Monarchie nicht bekämpft, sondern sie als notwendig erachtet für eine ethisch verantwortete Politik im Staat.

Wer genauer hinschaut, dem ist allerdings auch bewusst, dass der heutige Niedergang der Kirchen einhergeht mit der Krise der Geisteswissenschaften, des Journalismus, der politischen Kultur und vielem mehr. Mathematik und Physik sind heute dominierende Wissenschaften. Der Neoliberalismus dominiert als Ideologie unser Wirtschaftsdenken. Unsere Kultur leidet an einer Form von Autoimmunerkrankung. Wir brauchen keinen Feind im Außen, kein Verbot von Religionen wie im Kommunismus. Wir zerstören unsere Kultur von innen her. Doch was sind genau die selbstzerstörerischen Elemente in der Kirche wie in der Gesellschaft? Können wir überhaupt noch heilsame Strategien entwickeln oder ist es bereits zu spät? Wo verorten wir uns selbst in dieser krisenhaften Situation?

Eine Institution mit vielen Gesichtern

Es gibt eine Geschichte vom Baal Schem Tow, dem Begründer des Chassidismus, die ein Schlaglicht auf jede Form von Institution wirft. Sie lässt sich wunderbar auch auf Kirche und das Katharina­ Werk übertragen. Der jüdische Mystiker Friedrich Weinreb erzählt sie:

Durch seine große Sehnsucht und Hingabe kam der Baal Schem Gott immer näher. Da wuchs beim Satan eine aufwühlende Unruhe. Als Herr der Trennungen fühlte er Angst, seine Existenz sei in Gefahr.
Er sann darüber nach, wie er diesen einsam im Walde lebenden, schlichten, Gott inbrünstig liebenden Menschen von seinem Weg abbringen könnte. Aber der Baal Schem Tow liebte Gott mit einer solchen Hingabe, mit ganzem Herzen und all seinem Vermögen, so dass das Reich der Trennung zu Ende ging.
Satan ist voller Angst. Er begibt sich zu Gott und fordert von ihm sein Recht, die Welt der Trennungen behaupten und den Kampf mit dem Baal Schem Tow aufnehmen zu dürfen.
Gott in seiner unendlichen Güte erlaubt dem Satan, auf Erden den Kampf mit dem Baal Schem Tow aufzu­nehmen, der im Wald, im Verborgenen lebt.
Der Satan sucht also den Einen und stellt sich ihm als Legion entgegen.
Der Kampf ist zäh.
Die Engel im Himmel sehen, wie die Gedanken des Baal Schem Tow Verbreitung finden.
Seine Schüler und Anhänger werden immer zahlreicher. Menschen ziehen durch die Lande und erzählen von ihrem wunderbaren Meister. Es entstehen viele Lehrhäuser, man übt den Weg, so wie der Meister ihn seine Schülerinnen lehrte.
Satans Absicht scheint gescheitert. Eine neue Bewegung greift weiter um sich. Widersacher, welche der Be­wegung Einhalt gebieten wollen, welche sie als Abfall, ja, als Götzendienst anprangern, werden von der Bewegung hinweggeschwemmt.
Das Innige, das Gefühlsbetonte besiegt die trockenen Rationalisten. Jedermann kann sich an dieser Begeisterung selbst entzünden.
Die Anhänger zählen Tausende, Zehntausende, Hunderttausende und mehr.
Große Männer und Frauen werden erweckt. Ihre Namen tragen den Klang wie Helden aus alten Sagen. Man erkennt sie als große Meisterinnen und Meister.
Um sie entwickeln sich wiederum Schulen, es entstehen Dynastien.
Nur wenige Jahrzehnte hatte es gebraucht.
Der Baal Schem hatte gesiegt, trotz Satans Eingreifen. Die Bewegung erhielt den Namen Chassidismus, das heißt, die Gütigen, die Sanften, die Frommen, die Gottergebenen.
Alles scheint klar.
Doch da steigt der Satan wieder in den Himmel hinauf, und er trägt ganz und gar nicht die Miene eines Geschlagenen zur Schau. Im Gegenteil. Er lächelt vergnügt, zufrieden reibt er sich die Hände. Man ist erstaunt und verärgert zugleich.
„Es gibt doch für dich nichts zu lachen, Satan. Du hast doch eine unmissverständliche Niederlage errungen!“
,.Aber nein. Ganz und gar nicht“, erwidert Satan: „schaut, solange dieser Mensch allein war, bestand für die Welt eine große Gefahr. Meine Art, dieser Gefahr zu wehren, besteht darin, ihre Einsamkeit zu brechen, ihnen Anhänger zu verschaffen, neue Meister; ganze Orden von Meistem und Schülern, Gemeinschaften und Gruppen, unter denen die Eifersucht wächst, üble Nachrede gedeiht, Stolz mitbestimmt, einer mehr sein will als der andere, kurz, wo eine Hierarchie erwächst. Und nun schaut: Habe ich das nicht erreicht? Seht nur, wie es wimmelt, wie es tost, seht das Gedränge nach Ehre. Jetzt ist meine Arbeit zu Ende. Ich habe die Saat der Vielheit gestreut. Sie geht jetzt auf. Nur der Einsame trägt Gottes Antlitz, die Vielen aber; sehen sie mir nicht ganz ähnlich?
So sprach der Satan und die Bewohner des Himmels schwiegen beschämt.

Jede Institution muss sich ihrem Schatten stellen. Auch die Kirche. Sie hat dies jahrelang versäumt. Nur der Satan hat keinen Schatten, heißt es.
Sowohl individuell als auch als Mitglied im Katharina-Werk wissen wir, wie schwer Schattenarbeit ist. Aktuell beobachten wir in den Kirchen, dass die versäumte Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt, Patriarchat und der Vertrauensmissbrauch wie ein Bumerang zurückschlagen. Das betrifft nicht nur die katholische, sondern genauso die evangelische Kirche. Ich habe dazu einschlägige Erfahrungen in Berlin gesammelt.

Versäumnis über Versäumnis türmten sich über den Kirchen auf. Frauen und verheiratete Männer können immer noch nicht ihre priesterliche Berufung in der katholischen Kirche leben. Muss diese Kirche erst sterben, damit etwas Neues geboren werden kann? Ehrlich gesagt, fühle ich mich innerlich zerrissen. Auf der einen Seite weiß ich um all die Versäumnisse, all die Mängel, all die Defizite der Kirche. Auf der anderen Seite fühle ich mich von „Kirche“ so reich beschenkt.

Wer wäre ich, wenn mir Menschen nicht geholfen hätten, einen Weg der Selbstfindung zu beschreiten? Selbstfindung ist Gottesfindung. Und wer wäre ich, wenn ich Abraham Heschel nicht kennengelernt hätte, der sagt:

Die Welt wäre die Hölle ohne einen Gott, dem an ihr liegt. In der Welt gibt es kein Echo für die Qual und den Aufschrei der Menschheit. Nur Gott hört. Man bedenke das Missverhältnis von Elend und Mitleid Der Mensch versagt in besonderer Weise durch seine Gefühllosigkeit … Wenn nicht die Gewissheit wäre, dass Gott unser Schreien hört, wer könnte so viel Elend, so viel Gefühlskälte ertragen?

Wer wäre ich ohne die Bildsprache der Biblischen Bücher? Wie könnte ich mich in unserer Kultur zurechtfinden? Würde ich die Sprachbilder von Martin Luther King verstehen, die er der Exodusgeschichte entlehnt hat und mit denen er die Bürgerrechtsbewegung in den USA angeführt hat? Seit meiner Kindheit sind Kirchen Schutz- und Gebetsräume für mich. Schon die Architektur einer Kirche erzählt mir von der Verbindung von sichtbarer und unsichtbarer Welt. Sind nicht die Kathedralen von Chartres oder von St. Gallen, sind die kleinen, schlichten Bündner Kirchen oder die romanischen Kirchen in Burgund nicht steinerne Zeugen eines tiefen Glaubens? Sind unsere Kirchen nicht Seelenräume, die unsere Vorfahren geschaffen haben, um uns Ästhetik, Gemeinschaft, Ausrichtung, Dankbarkeit und Heilung zu schenken? Gebet und Meditation verdichten meine Seele. Ich liebe es, in den schweigsamen Kirchen zu sitzen. Und wenn sich in Gottesdiensten und Abdankungen ein spirituelles Feld unter den vielen Menschen aufbaut, dann ruhen meine Seele und mein wacher Verstand stille in Gott. In meiner Untröstlichkeit über den Verlust unserer Kultur fühle ich mich manchmal wie Kassandra, die schreit:

Seht ihr nicht hin, erkennt ihr nicht, dass nicht nur Pflanzen aussterben und Tierarten bedroht sind, sondern auch unsere christliche Tradition hier in Europa?

Braucht Gottes Geist nicht einen Körper? Um Wein trinken zu können, brauchen wir einen Kelch. Um zu leben, braucht unsere Seele einen Leib. Immer ist das Gefäß zu klein für den Inhalt. Immer ist das Gefäß zu eng, um das Licht fassen zu können. Immer ist das Gefäß zu fragil, um den Stürmen der Zeit stand zuhalten. Und dennoch, um den Glauben zu leben, so meine ich, brauchen wir Kirchen. Sie haben die Aufgabe, die Gesellschaft zu beseelen.

Wo gibt es Orte, an denen wir die Zeit heiligen? Kirchen und Synagogen haben Heimatorte der Zeit geschaffen, herausgehobene Zeiten, den Shabbat, den Sonntag. Was machen Flüchtlinge als erstes, wenn sie den Raum, die Heimat verloren haben? Sie bauen Gottesdiensträume, um ihre Kultur zu bewahren, um Gemeinschaft zu pflegen und um eine Heimat in der Zeit zu finden. Zu welchen Schrecken, welcher Trostlosigkeit, welcher Leere haben alle Versuche geführt, die Macht der Riten und Feste zu leugnen, sie zu unterdrücken und auszulöschen? Wenn die biblischen Geschichten nicht mehr erzählt werden, dann sterben das Judentum und das Christentum. Ich bin so reich beschenkt worden, gerne möchte ich das mir Geschenkte an die nächsten Generationen weitergeben. Aber was, wenn sich niemand mehr dafür interessiert? Und dann höre ich in mir die Arie Nr. 26 aus dem Oratorium von Felix Mendelssohn:

Es ist genug! So nimm nun, Herr, meine Seele!
Ich bin nicht besser denn meine Väter. Ich begehre nicht mehr zu leben, denn meine Tage sind vergeblich gewesen.
Ich habe geeifert um den Herrn, um den Gott Zebaoth…

Ich weiß, mein kausales Denken hilft mir nicht weiter. Hoffe ich auf ein Wunder? Jedenfalls hoffe ich auf unseren Austausch an diesem Wochenende.

Beatrix Jeßberger, Rastatt/D, 26. Januar 2019


¹ Der folgende Beitrag beruht auf dem Manuskript eines Vortrags, den Beatrix Jessbeatrix auf der Gemeinschaftsversammlung des Katharina-Werks am 26. Januar 2019 in Rastatt gehalten hat.