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Interview mit Juris Rubenis

Juris Rubenis

Via Integralis (VI): Juris, Wir sind seit Jahren miteinander unterwegs. Mit Freude und Respekt haben wir miterleben dürfen, wie Du in Lettland einen eigenen Zweig der Via Integralis aufgebaut hast. Magst Du uns erzählen, was Via Integralis für Dich bedeutet und in welcher Weise es Dich in Deinem Engagement prägt und bewegt?

JR: Schon vor mehr als 20 Jahren, fingen Bücher über Meditation und spirituelle Übungen an mich anzusprechen. Anfänglich habe ich auf dem Selbstlernweg Meditieren geübt. Dann hatte ich jedoch bald das Bedürfnis nach einem Lehrer und einer praktizierenden Gemeinschaft. In Lettland bestand dazu keine Möglichkeit. Bei der Suche nach einer entsprechenden Schule in Europa stieß ich im Internet auf Kurse, die das Lasalle Haus anbot.

Ich bin zum ersten Einführungskurs, den Marcel Steiner leitete gefahren und fühlte buchstäblich (ich habe gelernt solchen tiefen Gefühlen in mir zu vertrauen) – hier muß ich bleiben. Ich erfuhr mehr über die LKS und war erstaunt darüber, daß diese Schule sich als genau das herausstellte, wonach ich suchte! Mich sprachen sehr die Leiter und das Konzept der Via Integralis Schule an, die den Weg des Zen-Buddhismus mit der Christlichen Mystik verbinden. Dank meiner Verbindung zur Lassalle-Kontemplationsschule Via Integralis habe ich sehr viel gelernt und viele tiefe Freundschaften geknüpft.

VI: Dein persönlicher Weg ist sehr ungewöhnlich. Es ist nicht selbstverständlich, dass jemand in einem kommunistischen Land, das Lettland bis 1990 war, einen solchen spirituellen Weg geht. Was hat Dich zum Theologiestudium bewogen und späterhin einen vertieften Weg nach innen gehen lassen?

JR: Ich bin in einer nicht-religiösen Familie aufgewachsen. Bis zu meinem 18. Lebensjahr war ich sehr weit entfernt vom Spirituellen, dann erfuhr ich, im Jahr 1980 jedoch eine tief mystische Aufforderung dazu ein Geistlicher zu werden. Es war eine Stimme, die mich dazu drängte, Theologie zu studieren. Das war sehr überraschend, ich vertraute jedoch dieser Stimme und trat in das theologische Seminar der evangelisch lutherischen Kirche ein. So begann mein geistlicher Werdegang noch in Zeiten der Okkupation Lettlands durch die USSR (Lettland war zwischen 1918- 1940 ein unabhängiger Staat, dann erfolgte eine Besetzung durch die USSR, später durch Nazi-Deutschland, dann erneut durch die USSR). Im Jahr 1987 trat ich einer Dissidentenbewegung bei, die einen Kampf in Gewaltlosigkeit für die Unabhängigkeit Lettlands führte. Nach der Erneuerung des Staates Lettland hielt ich viele Jahre lang Vorlesungen über das Neue Testament in der Theologischen Fakultät der lettischen Universität, die wir mit einigen Gleichgesinnten im Jahr 1990 erneuert hatten.

Ich war über viele Jahre der Hauptpastor der größten lutherischen Gemeinde Rigas. Im Alter von etwa 35 Jahren merkte ich jedoch langsam, daß mir etwas innerlich fehlte. Anders ausgedrückt – eine kopflastige Spiritualität befriedigte mich nicht mehr. Ich fühlte, daß meine Entwicklung ins Stocken geraten war.

So begann mein innerliches Suchen, weshalb ich eines Tages das Bedürfnis fühlte, mit Gott einen Vertrag zu unterschreiben, indem ich mich Ihm völlig anvertraute. Ich erinnere mich sogar an das Datum, es war der 16. September 1996, als ich auf ein Blatt Papier folgende Worte schrieb: „Von diesem Augenblick an habe ich keinen freien Willen mehr, von nun an erfülle ich Gottes Willen immer, überall und in Allem.“ Ich unterschrieb dieses Blatt und fühlte buchstäblich, wie etwas auf metaphysischer Ebene in Bewegung geriet. Nach Unterzeichnung dieses Vertrages erfuhr ich eine Reihe erschütternder und tiefer mystischer Erfahrungen, welche ich ausführlicher in meinem Interview „Ein Vertrag mit Gott“ im Journal EVOLVE 09/2016 beschrieben habe. Dieses Ereignis hat mich buchstäblich nach innen gekehrt, es begann der Weg meines spirituellen Erwachens.

VI: Was hat Dich motiviert, Dich politisch zu engagieren. Ist das richtig, dass bei Dir nach wie vor Politiker und Politikerinnen Kontemplation üben.

JR: Ende der Achtziger Jahre schien es mir ganz natürlich, daß ich am politischen Prozess teilnehme. Das Fehlen einer äußeren Freiheit fühlte sich bedrückend und einschränkend an. Natürlich verstanden wir erst später, daß eine äußere Freiheit allein kein Garant für das Erlangen einer inneren Freiheit ist. Das Ende der Achtziger Jahre war eine sehr bewegende Zeit, für die ich Gott sehr dankbar bin. Ich fühlte sehr klar nach der Wiederherstellung der lettischen Unabhängigkeit, daß ich nicht unbedingt in der Politik bleiben muß, obwohl eine solche Möglichkeit und Angebote dazu bestanden. Ich bin natürlich der Überzeugung, daß spirituelle Menschen aktiv sein sollten in der Politik. Politik und Gesellschaft sind eine unserer Aufgaben. Jeder Mensch sollte jedoch gleichermaßen auch in sich selbst hineinhören, welches seine Lebensaufgabe ist, und meine Aufgabe war es weiter im spirituellen Bereich zu arbeiten. Außerdem hätte ein politisches Wirken zur Folge, daß ich in eine konkrete Partei hätte eintreten müssen, das engt deine Möglichkeiten ein und erschwert das Bilden von gleichwertigen Beziehungen mit allen. Das war auch der Grund warum ich vor vier Jahren das Angebot abgelehnt habe, die Kandidatur zum Präsident Lettlands anzunehmen. Jeder Mensch muß lernen zu unterscheiden, welches sein Platz ist. Das ist ein Zeichen von Reife. Mein Platz ist der geistige Weg. Wenn ich jemandem dabei von Nutzen sein kann, dann freut es mich. Meine politische Neutralität hat mir geholfen, freundschaftliche Beziehungen mit Politikern unterschiedlichster Parteien zu haben, viele Abgeordnete des Parlaments und Minister haben an Retreats im Haus des Elias teilgenommen.

Ich freue mich darüber, daß die lettische Staatskanzlei mich in diesem Herbst gebeten hat, ein 10-teiliges Seminare Programm zu leiten, in dem ich Führungspersonen höchsten Niveaus Mindfulness und Meditation lehre. Das ist eine wunderbare Erfahrung.

VI: Von Kunst und Künstlern lässt Du Dich in besonderer Weise berühren und inspirieren. Könnte man sagen, dass Du auch ein Brückenbauer bist zwischen Kunst und Spiritualität?

JR: Ich denke nicht, daß man mich einen „Brückenbauer zwischen Kunst und Spiritualität“ nennen kann. Unter meinen Freunden sind viele Künstler und ich liebe Kunst. Einer meiner langjährigen Freunde, mit dem ich viele Bücher gestaltet habe, ist der Künstler Māris Subačs. Und auch der Unternehmer Uldis Pīlens, mit dem wir vor zwei Jahren das Institut für Integrale Ausbildung gegründet haben, ist ein Künstler. Unter anderem malt er sehr interessante Gemälde. Meines Erachtens stehen Kunst, Musik, und Dichtkunst in großer Resonanz mit der Kontemplation, da man durch sie zu spirituellen Einsichten ohne die Hilfe logischer Konzepte gelangt. Ähnlich wie die Meditation sind dieses Instrumente um das Erwachen alternativer Wirklichkeiten zu erfahren.

VI: Du bist jahrelang Pastor der evangelischen Kirche Lettlands und Professer für Bibel-Exegese gewesen. Wie verstehst Du Dich heute in Deiner Kirche und was glaubst Du, welche Wirkung Deine Arbeit auf sie hat?

JR: Ja, ich habe 35 Jahre als Pastor der evangelischen Kirche gedient. Ich habe allerdings im Februar dieses Jahres mein Amt verlassen, bin aber weiterhin ein Mitglied der Kirche. Es war keine leichte Entscheidung, aber ich weiß, daß es die einzig richtige war.

Wie wir alle wissen, ist diese Zeit in Europa sehr schwierig. Man könnte es mit Richard Rohrs Worten ein „Rückfall“ nennen, er spricht ja davon, daß die Entwicklung der Geschichte einem gewissen Rhythmus folgt: „Entwicklungsschübe und Rückfälle“ – drei Schritte vorwärts, zwei zurück. Wir sind gerade dabei die zwei Schritte zurück zu erleben.

Die Menschen fühlen sich desorientiert, sie suchen erneut nach Sicherheit im Traditionalismus, Nationalismus, in der Abgrenzung von allem „Fremden“, in dem Verfolgen der „eigenen Interessen“.

Die Osteuropäische Kirche versucht ihre Daseinsberechtigung durch den Traditionalismus zu begründen, dort sind solche „neuen Geschichten“ wie Meditation oder ähnliche spirituelle Praxen nicht willkommen.

Ich habe große Achtung vor der riesigen Arbeit, die die Kirche vollbringt, und denke, daß es unabdingbar ist, mit ihr im Dialog zu bleiben. Ich bin kein konfliktfreudiger Mensch, ich fühlte jedoch, daß meine innere Integrität, meine Ehrlichkeit zu mir selbst, Leid tragen würde und ich in einen sehr großen inneren Konflikt kommen würde, wenn ich im Amt des Pastors geblieben wäre.

Natürlich hatte dieser Schritt auch mehrere andere Gründe. Ich fühle mich zur Zeit freier, unter anderem auch freier in der Fähigkeit der Kirche und ihren Menschen zu dienen. Seltsamerweise habe ich in der letzten Zeit zu der weltlichen Gesellschaft und ihren Vertretern ein viel besseres Verhältnis als zu unserer religiösen Gesellschaft.

VI: 2009 hast Du zusammen mit Deiner Frau Inga das Elias Haus eröffnet, in dem Ihr seitdem viele Veranstaltungen anbietet und viele Menschen begleitet. Kannst Du uns dazu etwas sagen?

JR: Ja, vor 9 Jahren haben wir in das erste Meditationshaus in Lettland ins Leben gerufen, wir haben in dieser Zeit etwa 230 Retreats unterschiedlicher Länge dort abgehalten ( 1-,3-, 5- und 7-tägige), die von etwa 3000 Menschen besucht worden sind. Als wir das Haus des Elias eröffneten, wußten wir nicht, daß das Interesse der Menschen in Lettland für einen spirituellen Weg so groß sein würde. Diese Zeit hat auch uns selbst sehr grundlegend verändert. Ich freue mich darüber, daß in der Zwischenzeit auch meine Lebensgefährtin Inga zu einer Kontemplationslehrerin geworden ist, die ihre eigenen Retreats leitet. Das Haus des Elias ist ein schönes Wunder und eine wichtige Wendung in unserem Leben.

VI: 2013 hast Du eine Kontemplationsschule Via Integralis gegründet: Was dürfen wir uns darunter vorstellen?

JR: Ja, im Jahr 2013 begannen wir in Zusammenarbeit mit der Lassalle-Kontemplationsschule Via integralis in der Schweiz und in Deutschland ein vierjähriges Kontemplationslehrer-Ausbildungsprogramm in der lettischen Sprache. Ein großer Dank geht an Dich, Hildegard, und auch an Bernhard für den regelmäßigen Besuch der lettischen Seminare, Eure Vorlesungen und die spirituelle Begleitung. Das Programm der lettischen LKS wurde von 16 Kontemplationslehrern im Jahr 2017 absolviert.

In diesem Jahr haben wir ein neues vierjähriges Programm begonnen, an dem wieder 16 Teilnehmer studieren. Wir benutzten dabei mit großem Verantwortungsgefühl das Schweizerische-Deutsche Programm, das für die Bedürfnisse Lettlands adaptiert und erweitert worden ist.

Meinem Gefühl nach können vier Jahre eine intensivere gemeinsame Arbeit ermöglichen sowie eine Auswertung der Persönlichkeiten der werdenden Lehrer. Die Teilnehmer des ersten sowie des zweiten Programms sind mir persönlich bekannte Menschen, deren spirituellen Werdegang ich viele Jahre mitverfolgt habe.

VI: Was ereignet sich zurzeit bei Euch aktuell und was sind die Zukunftsaussichten von Via Integralis in Lettland?

JR: Bezüglich des Wirkens von Via integralis in Lettland ist unser Hauptziel qualitativ hochwertige Seminare und Retreats zum Erlernen der Meditation anbieten zu können. Es gibt zurzeit in Lettland bereits 5 Orte, an denen Meditationsretreats im Sinne der Tradition und dem Geiste der Via Integralis stattfinden: Im Haus des Elias (Bezirk Ventspils), in der Villa Dole in der Nähe von Riga, in der Luthergemeinde Riga, im Raum der Stille der lettischen Nationalbibliothek und im Institut für Integrale Ausbildung in Riga. Es ist mir eine Freude, wie stabil sich die Via Integralis Gemeinschaft in Lettland etabliert hat.

Ich habe schon anmerken lassen, daß ich zusammen mit meinem Freund dem Unternehmer Uldis Pīlens ein Institut für Integrale Ausbildung in Riga geründet habe, welches verschiedene Seminare und Retreats anbietet, deren verbindender Strang die Meditation ist.

Wir arbeiten zurzeit in Übergangsräumlichkeiten, hoffen jedoch, daß in 16 Monaten ein neues großes Gebäude fertiggestellt sein wird, in dem wir unser Wirken erweitern können. Vielleicht können wir, nach der Fertigstellung der neuen Räumlichkeiten des Instituts eine gemeinsame Konferenz für Kontemplationslehrer der Via Integralis Europas organisieren? Vielleicht im Jahr 2021?

Wir freuen uns darauf, Dich, Hildegard, zusammen mit Bernhard in Lettland im Mai nächsten Jahres im gemeinsamen Seminar mit unseren werdenden Lehrern begrüßen zu dürfen.

VI: Juris, zum Abschluss: „Was ich noch sagen wollte…“:

JR: Ich fühle mich sehr dankbar. Gott dankbar, den Menschen, dem Leben dankbar. Und ich möchte die LKS Lehrer der Schweiz, Deutschlands und Österreichs dran erinnern, daß sie in Lettland viele Freunde und Gleichgesinnte haben.

Hildegard Schmittfull, November 2018