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Lesetipp: Integralis Christentum

Integrales Christentum. Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz

Marion Küstenmacher: Integrales Christentum. Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz, Gütersloher Verlagshaus 2018

Der integrale Ansatz von Ken Wilber wurde in den letzten Jahren von ihm selbst und von anderen auf unterschiedliche Felder übertragen. Während er selbst die buddhistische Seite in seinen neuesten Büchern von integraler Seite aus betrachtet (The Religion of Tomorrow; The Fourth Turning), hat ein amerikanischer Pastor, Paul R. Smith, zwei lesenswerte Bücher vorgelegt. Zum einen: Integral Christianity. The Spirit’s Call to Evolve (St. Paul, Minnesota 2011), zum anderen: Is Your God Big Enough, Close Enough, You Enough? Jesus and the Three Faces of God (St. Paul, Minnesota 2017). In beiden nimmt er den integralen Ansatz dazu her, das Christentum neu zu deuten und die christliche Botschaft für das 21. Jahrhundert neu zu lesen. Beide Bände und auch das Werk von Ken Wilber beziehen sich aber auf amerikanische Formen von Frömmigkeit und Spiritualität, die für uns Europäer nicht immer oder nur schwer nachvollziehbar sind. Ob und wie diese Bücher ins Deutsche übersetzt werden ist fraglich, aber auch nicht mehr nötig, denn es gibt jetzt eine Darstellung auf dem deutschen Markt.

Marion Küstenmacher hatte im Sommer des letzten Jahres ihr Buch veröffentlicht, in dem sie diesen deutschen oder europäischen Ansatz versucht.

In Fortschreibung von »Gott 9.0. Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird.« Gütersloh 2010, das sie zusammen mit ihrem Mann Werner Tiki Küstenmacher und mit Tilman Haberer verfasst hat, benennt sie jetzt ganz konkrete Felder, in denen eine integrale Entwicklung geschehen kann bzw. auch schon geschieht. Sie stellt in ausführlicher und verständlicher Form – ich habe bisher noch keine Darstellung auf deutsch gefunden, die so leicht nachzuvollziehen ist – den integralen Ansatz von Ken Wilber dar, beschreibt das Modell von Spiral Dynamics integral mit den neun Farben und gibt Hinweise, wie sich einzelne Themenfelder durch die Farben, das sind Metaphern für die Entwicklungsstufen, verdeutlichen lassen. Zu jedem Kapitel stellt sie Übungen vor, insgesamt 135, die nicht dazu verhelfen, den eignen Entwicklungsstand zu messen, sondern mit denen Ansätze für Entwicklung erkennbar werden. Diese Übungen helfen dabei, sich und andere besser zu verstehen.

Das wird besonders in den Entwicklungsstufen gelb, türkis und koralle wichtig. Sie zeigt beispielsweise an bestimmten Formulierungen und »Killersätzen«, was typisch für Entwicklungsstufen ist.

Mit verschiedenen Begriffen von Aufmachen über Aufbauen und Aufklären lässt sie hauptsächlich Ken Wilber sprechen. Unter Aufwachsen rekapituliert sie das, was in Gott 9.0 ausführlich erklärt wurde. Es wird hier aber auch deutlich, dass seither acht Jahre ins Land gezogen sind, und sich die Entwicklung selber, vor allem aber die Wahrnehmung von Entwicklungsstufen verändert hat. Wenn sie dann beschreibt, wie Stufenwechsel vor sich gehen, dann wagt sie mit den Lesenden den Aufbruch.

Mit viel Gewinn habe ich den Abschnitt Aufräumen gelesen. Ähnlich wie auch Paul R. Smith widmet sie sich ausführlich der Schattenarbeit und zeigt, wie man durch die Stufen hindurch immer wieder die Schatten erkennen und sichtbar machen kann. Am Beispiel vom »Gleichnis vom verlorenen Sohn« (Lk 15,11-32) oder wie immer man es bezeichnen möchte, zeigt sie, wie diese Schattenarbeit konkret aussehen kann und wie sich dadurch der Blick auf Bibeltexte verändert. Gerade im Blick auf die Schatten muss in integralen Zusammenhängen sorgfältig gearbeitet werden, was sie in diesem Abschnitt auch tut.

Der integralen Praxis sind dann die folgenden Kapitel gewidmet. Sie betrachtet das Beten (folgend des Blick der Stufen auf das Eine) im Abschnitt »Aufschwingen«, und sie betrachtet die drei Gesichter Gottes im Abschnitt »Aufleuchten«. Allein diese kurze Beschreibung war es wert, das Buch in die Hand zu nehmen, denn dieser Abschnitt zeichnet sich durch die einfache und doch ausführliche Beschreibung und vor allem durch die angebotenen Übungen aus. Zum Teil könnte man diese Übungen mit Gruppen ohne Schwierigkeiten durchführen. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Art meditativer Betrachtung mit fast schon gottesdienstlichem Charakter. Das spricht für die tiefe Erfahrung, die sie in diesem Buch verarbeitet.

In den letzten Abschnitten widmet sie sich dann noch einmal der Persönlichkeitsentwicklung, den Zuständen des Glaubens und der Reifung im Glauben. Schließlich benennt sie auch Integrale Impulse für Kirche und Gemeinschaft, die eine breite Diskussion verdienen. Im Buch selbst finden sich Grafiken von Tiki Küstenmacher, die den Inhalt humorvoll kontrastieren, die aber entgegen der Ankündigung nicht vierfarbig, sondern leider nur in schwarz-weiß ausgeführt sind, so dass der Anblick nicht immer sofort zum Verständnis des Gesagten beiträgt (die Farben spielen da ja eine wichtige didaktische Rolle).

Das »Integrale Christentum« ist ein Buch, das, wie es der Titel schon sagt, zum Standardwerk für integral arbeitende Gruppen werden kann. Viele Impulse daraus können unsere Diskussion bereichern, ich habe immer wieder Anklänge an unsere Ausbildung gefunden und viele unserer Diskussionen wiedererkannt. Ein Praxisbuch für den integralen Weg!

Norbert Kasper, Gaggenau/D, Juni 2019
Theologe und Pastoralreferent, Kontemplationslehrer